Wobblies und radikale deutsche Bierbrauer in den USA!
Seit 2006 wird der Begriff >>Organizing<< in Deutschland verstärkt verwendet. Sowohl einige linke Aktivisten als auch Gewerkschafter und PR-Strategen aus dem Umfeld von IG Metall und ver.di rezipieren unter diesem Label Konzepte amerikanischer Gewerkschaften wie der SEIU zur Mitgliedergewinnung, Kampagnen-Führung und organisatorischen Wiederbelebung
(siehe Rainer Berger + Malte Meyer in ak 565 und Eric Leiderer, IG Metall-Jugend in ak 567).
Man gewinnt seither den Eindruck, als sei das Organisieren in den USA erfunden worden und eine völlig neuartige Sache. Dem ist nicht so.
Vielmehr handelt es sich – aus historischer Perspektive – um einen deutschen Export und Re-Import.
Die Rezeption der US-amerikanischen Arbeiterbewegung hat in Deutschland mindestens zwei blinde Flecken. Der eine betrifft die radikale anarchistische Vorgeschichte der us-amerikanischen sozialistischen Bewegung.
Hier treffen wir erstaunlicher Weise verstärkt auf radikale deutsche Sozialisten und Gewerkschafter in Chicago, Milwaukee, St. Louis, Cincinnati, besonders in den Domänen der deutschen Emigranten, die damals die drei Bs genannt wurden: Beer, Butchers and Bakeries (Bier, Schlachter und Bäcker). Viele von ihnen waren, wie William Trautmann, durch Bismarcks Sozialistengesetze zur Emigration gezwungen worden.
Die Idee der One Big Union
Big Bill Haywood auf der Gründungsvesammlung der IWW
Der zweite blinde Fleck betrifft den Beginn der modernen Arbeiterbewegung, der in den USA mit der Gründung der IWW am 27. Juni 1905 datiert werden kann. Die Asche der historischen IWW-Rebellen und Rebellinnen ist auch hundert Jahre später offenbar immer noch zu heiß, um vom Umfeld der Profi-Gewerkschaften angefasst zu werden.
Der AK-Autor Peter Birke schreibt im Vorwort zu seinem Buch “Die Große Wut und die kleinen Schritte – Gewerkschaftliches Organizing zwischen Protest und Projekt”: “Die ersten Organizer waren vor vierzig Jahren in Chicago aktiv”. Er datiert den Beginn des Organizing demnach auf das Jahr 1936, das Coming-out des Congress of Industrial Organizations (CIO) und der United Automobil Workers (UAW) in der Motor-Town Detroit durch den epochalen Streik bei General Motors in Flynt. Zum gleichen Befund kommt das Büchlein „Organizing“ der IG-Metall-nahen PR-Agentur Kornberger und Partner, die Saul Alinksky als Gründervater der Idee ansehen, der seine Karriere im Umfeld des CIO-Boss Lewis in den 1930ern begonnen hatte.
Der zweite Anlauf: Congress of Industrial Organisations
Leon Bates, seit 1935 legendärer Organizer der United Automobile Workers (CIO) im Jahr seiner Pensionierung 1964. Quelle: wikicommons
Die IWW-Gründung 1905 beinhaltete aber bereits 30 Jahre vorher den ersten Versuch auf amerikanischem Boden, berufsständische und regionale Gewerkschaften zu einer überregionalen, transnationalen Organisation zu verbinden und in großem Stil nicht nach Berufsgruppen sondern nach Branchen und Verwertungsketten zu organisieren. Die Gründung des Congress of Industrial Organisations (CIO) stellt im Jahr 1935 einen zweiten Anlauf in derselben Frage dar. Die CIO-Gründung wurde erst möglich durch Gesetze der Roosevelt-Ära, das Norris-LaGuardia-Gesetz von 1932 und den umfassenden Wagner-Act von 1935, die erstmals Gewerkschafter effektiv von Union-Busting-Maßnahmen des Unternehmerlagers und ihrer Handlanger schützten. Voran gegangen war eine massive Eruption von Arbeiterunruhe in den Jahren nach dem Crash von 1929 , wie Staughton Lynd schreibt. Erfolgreiche lokale Generalstreiks in Minneapolis, Toledo und San Francisco und ein beinahe erfolgreicher Streik in der Textilindustrie.
Die fortschrittlicheren Teile der amerikanischen Burgeoisie erkannten, dass eine weitgehend unorganisierte Arbeiterklasse schwerer zu händeln und gefährlicher wäre, als eine Gewerkschaftsbewegung, die eingebunden und domestiziert werden konnte und mäßigend bis bremsend auf die Arbeiterschaft einwirken musste, um Tarifverträge zu erzielen. So beinhalteten die Rechte aus dem Wagner Act, Pflichten wie das Unterzeichnen einer Anti-Streik-Klausel und die Durchsetzung derer Einhaltung gegenüber der Arbeiterschaft. Solche Bedingungen wurden von den Wobblies abgelehnt. Eine konsequente Haltung, die sie mit weitgehender Marginalisierung bezahlten.
Tatsächlich ging die Strategie im Falle des CIO letzendlich mustergültig auf. Als die Roosevelt-Ära endete und in der Ära McCarthy ein reaktionärer Umschwung erfolgte, war der CIO schon so korrumpiert, dass er nichts entgegen zu setzen hatte und sich an der Ausgrenzung und Berufsverboten gegen Kommunisten aktiv beteiligte.
Coming-Out: Der große Streik in Mc Kees Rocks
The Rebel Girl: Elizabeth Gurley Flynn spricht. Ort unbekannt.
Die ersten großen Früchte trugen die Aufbaubemühungen von lokalen IWW-Aktivisten und herum reisenden Organizer_innen 1909 in der Stahl-Industrie bei Pittsburgh, als die IWW einem Streik in der Waggonfabrik des Trust US Steel in McKees Rocks zum Durchbruch verhalf. Es war der weltweit erste Streik in einer vollständig taylorisierten Fabrikation. 1913 gelang es den Wobblies bei Studebaker in Detroit den wahrscheinlich ersten Streik in der Automobil-Industrie zu organisieren. Etwa 6.000 Ungelernte legten damals die Arbeit nieder und marschierten aus der Fabrik.
Das IWW-Organizing funktionierte damals nach folgendem Muster. Einzelne Wobblies arbeiten in einem Betrieb. Vielleicht gibt es vor Ort eine kleine Ortsgruppe, über die sie sich unter einander und überregional austauscht. Wenn ein Betrieb sich für Wobblies als interessant heraus stellt, versuchen möglichst viele Mitglieder, dort unter zu kommen. Hauptindikator wären massive Unzufriedenheit der Arbeiterinnen, hohe Fluktuation, erste Formen von Selbstorganisation, unzumutbare Arbeitsbedingungen. Die US-Wobblies sprechen heutzutage davon, „einen Betrieb zu salzen“. Der Wobbly-Organizer ist ein Salzer („a salt“). Sobald die Phase der Gärung abgeschlossen ist und die gesalzene Unzufriedenheit sich in Konflikten entlädt, geht der Kampf an die Öffentlichkeit. Nun schickt die IWW bekannte Redner_innen wie Big Bill Haywood, William Trautmann, Elizabeth Gurley Flynn in die Stadt. Die IWW-Presse stellt überregionale Öffentlichkeit bis ins bürgerlich-liberale Spektrum her. Es finden Solidaritätsaktionen in anderen Städten statt. Als besonders effektiv erwies es sich außerdem, Organizer_innen zu entsenden, die die Sprache der unterschiedlichen Migranten-Gruppen an den Fließbändern, Webstühlen und Werkbänken sprachen.
1909 reiste der deutsche Gewerkschafter Trautmann aus der IWW-Zentrale in Chicago nach McKees Rock, der familiäre Kontakte nach Pittsburgh hatte und die Stadt kannte. Ein Onkel hatte in Homestead gearbeitet und war an dem großen Streik von 1892 beteiligt; es gab Arbeiter in der Fabrik, die dem Deutschen Metallarbeiter Verband angehört hatten (Vorläufer der IG Metall); aus New York reisten italienische Wobblies an. Wer die große Gruppe osteuropäischer Arbeiter, viele kamen aus Ungarn, betreute, ist unbekannt. Im Gefolge der Redner und fremdsprachigen Organizer kamen Bohemiens, Hobos, Abenteurer, Radikale aus anderen Landesteilen angereist,Personen wie Joe Hill, die Support auf Straßen, Plätzen und in Kneipen organisierten und sich den Angriffen von Schlägertrupps und Polizeitruppen entgegen stellten, Lieder komponierten, Flugblätter verteilten und auf Seifenkisten agitierten. Der bekannteste dieser Streiks, die ab 1909 regelmäßig und in Wellen durch das Land brausten, fand vor 100 Jahren in der Textilindustrie von Lawrence Massachussetts statt. Er ging als „Bread and Roses-Streik” in die Geschichte ein.
“Jammert nicht – Organisiert!”
Viel eher als Saul Alinsky böte sich Joe Hill als Ikone des Organizing an (falls soetwas überhaupt sinnvoll erscheinen mag); das Requiem „I dreamed I saw Joe Hill l ast night”, welches am 10. Jahrestag seines Todes erschien, ist eine Ode auf den herumschweifenden Organizer, dessen Geist weiter lebt und Arbeiter_innen inspiriert. Der Wanderarbeiter, Liedermacher und IWW-Agitator hatte am 19. November 1915 in einem Gefängnishof in Salt Lake City vor seinem Erschießungskommando, bevor der Befehl zu Feuern kam, gerufen: „Don’t mourn – Organize!“ („Jammert nicht – Organisiert!“).
Joe Hill war in den bigotten Mormonenstaat Utah gereist, um Arbeiter im Streik gegen dortige Kupfer-Minen-Barone zu unterstützen. Sein Todesurteil war nichts anderes als ein Frame-up, eine Verurteilung anhand gezielt fingierter Indizien, die typisch amerikanische Form des Rechtsnihilismus, der 1887 schon die deutschen Anarchisten von Chicago zum Opfer gefallen waren, später Sacco und Vanzetti (1927) sowie das Ehepaar Rosenberg (1953) – und um ein Haar auch Abu Mumia Jamal. Das heißt: Aktivisten werden in hochzeiten politischer Verfolgung und Hysterie mit konstruierten Vorwürfen, die sich vor Gericht als unhaltbar erweisen, gezielt zur Strecke gebracht.
Die erste Betriebsbesetzung der USA: Cincinnatti 1884
Gehen wir noch weiter zurück so landen wir im Jahre 1884 in Cincinnati am Ohio-River. Dort fand der erste Stay-in-Strike der USA statt. Auf deutsch: eine Betriebsbesetzung.v Die Gewerkschafter hatten sich mit Proviant auf eine mehrwöchige Belagerung eingestellt, was auch dadurch begünstigt wurde, dass sie wie Leibeigene in einem „Schalander“ auf dem Betreibsgelände wohnten, um stets auf Zuruf verfügbar zu sein. Der Legende nach soll ihr Kampf auch deshalb erfolgreich gewesen sein, weil sie gefüllte Bierfässer als Barrikaden verwendeten. Als die Bundestruppen das Feuer eröffneten – schließlich ging es um die Freiheit des Privatbesitzes – , rann Gerstensaft auf den Asphalt. Ein Anblick, welcher die Jackson-Brauerei (hier ein Foto) weitaus mehr schmerzte, als das Blut von Arbeitern. Die deutschsprachige Vereinigte Brauerei-Gewerkschaft war die erste, die in den USA industriell organisierte. In ihr zusammengeschlossen waren neben Brauern, Fassbindern und anderen am Produktionsprozess beteiligten Gewerken auch die Fahrer und darüber hinaus, Wirte und Bedienungen in Kneipen. Durch die Einbindung der Fahrer konnte die Gewerkschaft eine Brauerei ebenso empfindlich treffen wie durch die Wirte und Bedienungen. Die deutschen Bierbrauer führten sehr erfolgreiche Boykott-Kampagnen gegen Biere-Marken gewerkschaftsfeindlicher Unternehmen durch. Zeitweilig tranken amerikanische Arbeiter_innen nur Bier mit offiziellem Gewerkschafts-Label, das sich die Unternehmer durch faire Arbeitsbedingungen und Tarifverträge verdienen mussten. Noch heute ziert ein solches Label übrigens die Dosen von Pabst Blue Ribbon, das Amerikareisenden hiermit zum Genuss empfohlen sei.
Im Juni 2012 kommen zwei Salzer aus Minneapolis / St.Paul nach Deutschland, um deutschsprachige Wobblies und befreundete Syndikalist_innen in die aktuellen und weiter entwickelten Techniken des Wobbly-Organizing einzuweisen. Micah Buckley-Farley und Eric Foreman haben ihr Gesellenstück in der Sandwich-Kette Jimmy John’s abgeliefert, wo sie in zweijähriger Aufbauarbeit die Belegschaften von 9 Filialen in einem weitgehend gewerkschaftsfreien Umfeld gewinnen konnten. Sie führen im Industrial Organizing Komitee der IWW regelmäßige Schulungen durch, um aus möglichst jedem Wobbly einen Organizer zu machen. Eine Trennung von Organizern und Arbeitern gibt es bei der IWW nicht. Wobblies lassen den Boss für den Lebensunterhalt der Organizer bezahlen. Man nennt es auch Lohnarbeit.
Heiner Stuhlfauth
[ Der Beitrag erschien in gekürzter Form unter dem Titel „Erinnerungen ans Humpenproletariat“ in der Zeitung analyse + kritik Nr. 572, 15. Juni 2012. ]
Mehr Infos zur IWW Jimmy John’s Workers Union: http://organize.wobblies.de
Mehr zur IWW-Geschichte, Frauen, US-Arbeiterbewegung und Organizing: Lucy Parsons – gefährlicher als 1000 Randalierer